Lesepredigt

Lesepredigt zu Rogate (05.05.2024)

Exodus 32,7-14

 

 Gnade sei mit euch und Friede, von Gott unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus.

 

Wie geht es Ihnen, wenn Sie gegen Widerstände für Andere eintreten? Zum Beispiel damals in der Schule, wenn ein Mitschüler von der Klasse ungerecht behandelt wurde und man sich dachte: Eigentlich müsste ich doch jetzt etwas sagen. Oder aber auf der Arbeit, wenn man eine bessere Position bekommt und sich denkt, dass doch ein guter Kollege schon lange eine Gehaltserhöhung verdient hätte – traut man sich da, das so offen beim Chef anzusprechen? Später dann im Alter, wenn eine gute Freundin oder ein guter Freund ins Pflegeheim muss: Schafft man es, die eigene Bequemlichkeit zu überwinden und den nicht immer angenehmen Weg zum Besuch in der Pflegeeinrichtung anzutreten?

Sie merken vielleicht: Es braucht Mut, für andere einzutreten, gerade, wenn man es mit Widerständen zu tun hat.

Mose hatte diesen Mut – wir hören heute, dass er sich einer direkten Anweisung Gottes widersetzte. Mose setzte sich für das Volk Israel ein, als Gott beschloss, dieses zu vernichten. Und Gott ist nicht begeistert über die Einmischung des Mose. Gott spricht zu ihm: „Lass mich!“ und meint damit: „Misch dich nicht ein, ich bin wütend und will jetzt meiner Wut freien Lauf lassen!“

Ich glaube, dass ich an der Stelle von Mose ganz stumm geworden wäre und mich aus Angst verkrochen hätte. Nicht so Mose. Er verstummt nicht vor Gott: Da steht zu viel auf dem Spiel. Gott hatte angedroht, das Volk Israel, sein eigenes Volk, zu vernichten, vom Erdboden zu vertilgen. Das darf nicht sein. Das weiß Mose, nicht um der Menschen willen, aber auch nicht um Gottes willen. Er bekniet Gott, beschwört ihn, sich selbst treu zu bleiben und von seinem Zorn abzusehen. Mose hält Fürbitte, tritt für das Volk Israel – die Schwächeren – im Gebet ein. Mose versucht nicht, den Zorn kleinzureden – das ginge gar nicht, weiß er. Aber so darf Gott doch nicht sein: so wütend, so kompromisslos – das ist nicht Gott. Nicht sein Gott, nicht unser Gott. Und es geschieht, was kaum zu erwarten war: Gott lässt sich umstimmen, er zieht seine Drohung zurück. Die Menschen dürfen leben.

 

Aber was war zuvor geschehen, dass es so furchtbare Konsequenzen haben sollte?

 

Nach der Befreiung aus Ägypten hatte Mose das Volk durch die Wüste geführt. Mühsam hatten sie gelernt, auf Gott zu vertrauen. Und immer war Mose da, ihr Anführer, mit einem direkten Draht zu dem unsichtbaren Gott. Am Sinai angekommen, bestiegen Mose und einige andere den Berg, wie Gott befohlen hatte. Inzwischen sind Wochen vergangen – und sie kommen und kommen nicht wieder. Ob sie überhaupt noch leben? Ob Mose noch lebt? Wie soll es weitergehen, wenn Mose nicht mehr wiederkommt? Wer hat dann die Verbindung zu diesem Gott? Sie werden unsicher, haben Angst vor der Zukunft. Gibt es die Sicherheit für die Zukunft? Klarheit, welcher Weg der richtige ist? Das treibt das Volk Israel um. Und Gott spüren sie nicht und sehen ihn nicht, er ist und bleibt unsichtbar.

Ich kann das gut verstehen: Alles ist unsicher, die Zukunft unklar – das Erleben auch wir heute. Damals schwand beim Volk Israel das Vertrauen in Gott, als Mose abwesend war. Man braucht doch Vertrauen in eine gute Zukunft, wenn man gut leben will! Was kann da helfen? – das Volk Israel trifft eine Entscheidung: Andere Völker haben Figuren ihrer Götter. Figuren, die man anbeten und um Rat fragen kann. Figuren die immer sichtbar sind und nicht unsichtbar wie Gott. Da kann man etwas sehen und anfassen, hat eine Vorstellung – das könnte helfen. Die anderen Völker rings herum fahren ja auch gut mit ihrer Art der Gottesverehrung. Und so bestürmen die Israeliten Aaron, den Bruder des Mose: Hilf uns, mach uns ein Standbild, einen Gott, den wir sehen können. Aaron weiß, dass er sich Ärger mit Mose einhandelt, aber er versteht auch seine Leute. „Gebt mir alles Gold, was ihr habt, jedes kleinste Stück!“ Er weiß: Wenn sie sich darauf einlassen, muss ihre Not wirklich groß sein. Und sie tun es. Alles geben sie ihm. Er schmilzt es ein und gießt ein Kalb, besser: einen jungen Stier: Sinnbild von Kraft und Fruchtbarkeit. „Das ist unser Gott, der uns aus Ägypten geführt hat.“ Die Not des Volks scheint vergessen. Sie nennen ihn Herrn, aber mit der Stierfigur hat sich alles verändert: Sie vertrauen Gott nicht mehr, so wie sie ihn kennengelernt hatten. Stattdessen machen sie sich ihr eigenes Bild von ihm, opfern ihm und feiern. Jetzt haben sie wieder ein Gefühl von Sicherheit, Vertrauen in die Zukunft. Das tut ihnen gut. Das Handeln der Israeliten kann man gut nachvollziehen, finde ich.

Aber Gott macht dieses Geschehen wütend! Genau das wollte er ja nicht: Er hatte dieses Volk gerettet, geleitet und ihm Menschen gegeben, die es durch die Wüste in ein Land führen sollten, in dem sie leben konnten. Und nun das. Er wollte zuallererst, dass seine Menschen ihm vertrauen! Der junge Stier aus Gold aber bezeugt das Gegenteil. Gott ist wütend, so wütend, dass er zu Mose sagt: Dein Volk, nicht mehr mein Volk! Auch Mose kocht vor Zorn. Aber Mose liebt die Wüstenwanderer auch, sie sind ja sein Volk – und deshalb kann und will er sie nicht einfach dem Zorn Gottes ausliefern. Mose betet, lässt sich nicht abschrecken, nicht einmal von Gott selbst. Er legt Gott alles vor, was ihm wichtig ist, unzensiert: „Soll alles, was du bisher für dein Volk getan hast, umsonst gewesen sein? Von der Befreiung aus Ägypten an? Was sollen denn die anderen Völker von dir denken, wenn du sie vernichtest? Sie werden dich für einen Mördergott halten! Sollen am Ende die Unterdrücker triumphieren?“ Mose geht noch weiter zurück. Er erinnert Gott an seine Verheißungen für Abraham, Isaak, Jakob und deren Familien. Das alles stand ja auf dem Spiel: die Nachkommen, die Gott versprochen hatte, würden mit untergehen – und das verheißene Land würde keiner erreichen. „Gott, bleib dir selbst und deinen Verheißungen treu“, könnte er sagen. „Denk daran, dass du immer barmherzig gewesen bist, dass deine Liebe immer größer war als dein Zorn!“ Da hat der Herr Mitleid mit seinem Volk. Das Böse, das er ihm angedroht hatte, tut er nicht. Heißt es.

Beten, Reden mit Gott, hilft! Diese Erzählung ist nicht nur eine aus vergangener Zeit, sondern trifft mitten in unsere Existenz, die oft von Unsicherheiten und Nöten gekennzeichnet ist. Sie ermutigt uns zu beten, Gott treu zu bleiben, ihn mit unseren Anliegen zu bestürmen, ihn an seine Verheißungen zu erinnern, an seine Liebe zu uns und seiner Welt. Wenn wir Zeiten erleben, wo Gott weit entfernt scheint, wenn unser Vertrauen sinkt, wenn wir vergeblich auf eine Veränderung warten: die heutige Bibelgeschichte sagt uns: Bleib dran! Rede mit Gott. Er hört dir zu, er sieht dich. Und das bringt schon eine Veränderung. Du bist nicht allein mit deiner Not. Gott hört dich! Das kann dich vor Resignation bewahren. Die Situation kann sich ändern – das sehen wir bei dem Gebet des Mose. Gott ändert seinen Plan.

Aber wir kennen wahrscheinlich alle auch diese Situation: Wir beten und beten und es ändert sich nichts. Werden unsere Gebete nicht erhört? Laufen sie dann ins Leere? Wir beten für den Frieden und es gelingt nicht, Tyrannen und Kriegstreiber in ihre Schranken zu weisen. Wir beten um die Gesundheit eines Menschen, und dann müssen wir doch an einem Sterbebett stehen. Wir beten um Gerechtigkeit und sehen, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht. Beten, egal ob für andere oder für sich – das ist nicht immer leicht. Manchmal braucht es Kraft und Mut weiter zu beten. Gerade auch, wenn Menschen um uns herum Gebete belächeln.

 

Das Gebet ist eine Kraft Gottes und doch ist es kein Wunschautomat. Wir können beten und hoffen, dass sich die Dinge wenden, aber es ist kein Zeichen für schwachen Glauben, wenn unsere Wünsche an Gott nicht in Erfüllung gehen. Als Jesus in großer Angst war, im Garten Gethsemane, hat er Gott darum gebeten, dass er nicht leiden muss. Und dann endete er mit dem Satz, der wohl das größte Vertrauen in Gott ausdrückt: Aber es geschehe, wie du willst.

Das ist Beten: Gott alles sagen – und dann darauf vertrauen, dass er es richtig machen wird, so wie er es will. Denn er ist nicht ein Gott, den ich mir formen kann, wie ich es möchte, wie sie es damals mit dem Goldenen Kalb taten, sondern ich muss ihn souverän sein lassen, auch wenn es meinen Wünschen zuwiderläuft. Und das ist wahrhaftig nicht leicht. Und weiterhin steckt im Gebet die Aufforderung, mich einzusetzen, wo ich das vermag: Beten heißt nicht nur, die Hände zu falten, sondern auch: Gottes Willen zu tun. Nicht nur für den Frieden zu beten, sondern den Opfern der Gewalt zur Seite zu stehen. Nicht nur für Gerechtigkeit zu beten, sondern sie an meinem Platz und mit meinen Möglichkeiten zu befördern. Nicht nur für die Kranken zu beten, sondern sie liebevoll zu begleiten und ihre Not so gut wir es vermögen zu lindern. Denn wenn wir für Menschen beten, wird uns deutlich, dass sie genauso Gottes Kinder sind wie wir, dass wir als Geschwister in dieser Welt zusammengehören und miteinander solidarisch sein sollen. Das ist die Kraft des Gebets: alles Gott nahezubringen, was uns bewegt, und ihn zu bitten. Aber auch anzunehmen, was Gottes Antwort ist – selbst wenn es nicht meinen Wünschen entspricht, denn sein Wille ist hier das Entscheidende. Und schließlich aus alldem die Kraft zu schöpfen, mich für das Leben und die Liebe untereinander einzusetzen. Denn das ist auf jeden Fall Gottes Wille.

Amen.